Michael Wening, 1697
Der heute „Taubenturm“ genannte Torturm entstand zugleich mit dem großzügigen,
barocken Ökonomiehof des Diessener Augustiner-Chorherrenstifts unter Propst Simon Werle, der dem Kloster 37 Jahre lang vorstand, von 1611 bis 1648,
also auch in den Jahren des Dreißigjährigen Krieges. Sein umsichtiger Wirtschaftsleiter (Prokurator) Wilhelm Reittorner verfasste 1642, kurz vor seinem Tod, einen Rechenschaftsbericht über seine 20-jährige Tätigkeit für das Kloster. In diesem
„Compendium Oeconomicum“ berichtet er auch über die Baumaßnahmen des Jahres 1628:
Ausgehend von dem im Jahr zuvor errichteten (und noch heute bestehenden) „Traidtkasten“ sei damals ein ganzer „zwerch stockh“, also ein quer dazu verlaufender Gebäudetrakt, erbaut worden, der den Klosterhof nach Norden abschloss. Bei der Beschreibung dieses Flügels heißt es dann wörtlich: „nach solchem volgt die einfart oder haubt tor ins closter, auf welchen ein drey gädiger thurn und darauf ein schlag uhr sambt einer gloggen zum spörleüdten sich befünden thuet.“ (Als nächstes folgt die Einfahrt oder das Haupttor ins Kloster, über welchem sich ein dreistöckiger Turm erhebt, der oben eine Schlaguhr mit einer Glocke zum Sperrläuten hat.)
So ein Torturm - natürlich mit massiven Torflügeln versehen - war in diesen unruhigen Zeiten dringend erforderlich, um unliebsame Gäste abzuhalten. Die früheste Abbildung des Turmes ist von 1654.
Pergamentbild, 1654
In dieser frühen Zeit war der Torturm von einer barocken Zwiebelhaube bekrönt. In den Jahren 1762/63 erhielt er einen neuen Dachstuhl, der, allerdings in veränderter Form, noch heute vorhanden ist. Das jetzige, pagodenförmige Dach stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die längste Zeit seiner Geschichte hieß dieser Turm „Romenthaler Tor“, weil von ihm aus der Weg zur Klosterschwaige Romenthal führte. Erst seit etwa 1800 - aber schon vor der Säkularisation von 1803 - ist der Name „Taubenturm“ überliefert. Er bezieht sich vermutlich auf die Tauben, die sich gern auf seinem Dach niederlassen.
Die Kupferstiche des 18. Jahrhunderts zeigen als Bekrönung einen waagrecht fliegenden, Posaune blasenden Engel. Der wurde später durch einen stehend oder laufend dargestellten, ebenfalls Posaune blasenden Engel ersetzt. Dieser Engel ist noch heute auf dem Dach des ehemaligen Wirtshauses nördlich vom Taubenturms erhalten. Den heutigen Taubenturm-Engel entwarf 1976 der Diessener Künstler Michael von Schweinitz (1943-2006), ausgeführt wurde er vom Spenglermeister Hermann Dimpfl.
Durch die Säkularisation des Klosters (1803) wurde der bayerische Staat Eigentümer des Taubenturms. Er bemühte sich, die Ökonomiegebäude des ehemaligen Klosters möglichst schnell zu verkaufen. Das gelang auch innerhalb weniger Jahre. „Das Thorwart-Häusl, einschlüssig des Taubenturms“ erwarb noch 1803 der aus einer angesehenen Diessener Kaufmannsfamilie stammende Benedikt von Baab. Als alter Mann soll er verarmt sein und im Turm gewohnt haben. Dass er dort Tauben gezüchtet habe, ist den Quellen nicht zu entnehmen und wohl eine nachträgliche Legende, um den Namen des Turms zu erklären.
Über die weitere Besitzerfolge ist derzeit nichts bekannt. Um 1900 gehörte der Turm dem Diessener Bürger Kasimir Riedenauer. Damals war er westlich und östlich von zwei weitgehend gleichen Gebäuden flankiert.
Photographie, um 1901
Davon steht heute nur noch das westliche, der sog. Scheffler-Stadel. Dieses ehemalige Remisengebäude bildet (zusammen mit dem Traidtkasten) einen bedeutenden Rest der barocken Bebauung des klösterlichen Ökonomiehofes und ist, wie der Taubenturm, auf das Jahr 1628 zu datieren. Das östliche Gegenstück wurde leider um 1900 abgebrochen; erst danach ist das heute südöstlich des Turms stehende Gebäude errichtet worden.
1925 erwarb der „Heimatverein Dießen und Umgebung e.V.“ den Turm. Der Kaufpreis
(2000 Mark) wurde durch ein Sommerfest, sonstige Aktivitäten und durch Anteilsscheine zusammen gebracht. Der ehrgeizige Plan war, in dem Turm ein Diessener Heimatmuseum einzurichten. Aber zunächst war der Turm noch bewohnt, und es dauerte Jahre, bis man für die ärmliche Mieterfamilie Walch eine Ersatzwohnung fand. Erst 1933 konnte mit der Einrichtung des Museums begonnen werden, für das es bereits eine stattliche Sammlung von Exponaten gab. Von 1935 hat sich ein erstes Museumskonzept erhalten:
„Von den drei zur Verfügung stehenden Räumen enthält der erste Dokumente der einheimischen Handwerkskunst, der zweite zeigt die Auswirkungen und Vorbedingungen der alten Haus- und Familiengemeinschaft (Herd und Stube), der dritte ist Besprechungs- und Arbeitsraum und enthält vor allem einen gewaltigen Wandschrank zur Aufbewahrung der Bücherei. Ebenso sollen in diesem dritten Raum die naturwissenschaftlichen Sammlungen untergebracht werden.“
Das Museum füllte sich immer mehr, im obersten Raum fanden Besprechungen statt. Aber es wurde niemals offiziell eröffnet. Während des Zweiten Weltkrieges kamen die Aktivitäten des Heimatvereins praktisch vollkommen zum Erliegen. Doch auch nach dem Krieg blieb der Turm - von einigen kurzfristigen Ausstellungen 1947 und 1951 abgesehen – immer geschlossen. Die Räume waren vollkommen überfüllt, so dass man sich kaum mehr in ihnen bewegen konnte,
und das Interesse an dem Taubenturm-Museum war weitgehend eingeschlafen.
Die Schicksalswende für den Taubenturm kam 1974: Im Rahmen der Vorbereitungen auf die 650-Jahrfeier der Markterhebung (1976) beschloss die Marktgemeinde, den ziemlich heruntergekommenen Turm zu sanieren. Zu diesem Zweck trat der gesamte Gemeinderat vorübergehend dem Verein bei. Mitglieder des HVD räumten das Museum aus und lagerten die Exponate im Stall des „Traidkastens“ (heute Kirche St. Stephan) ein.
Durch Studenten der TU München wurde der Turm genau vermessen, sanitäre Anlagen wurden eingebaut, die Fenster erneuert und ein leuchtend gelber Außenanstrich gewählt.
Die Vorstandschaft war sich damals grundsätzlich einig, den Turm nach der Sanierung nicht mehr als Museum, sondern für wechselnde Ausstellungen und Veranstaltungen zu nutzen.
Und so geschah es: Seit 1977 fanden und finden jedes Jahr sechs bis acht Ausstellungen jüngerer Künstler, aber auch heimat- und naturkundliche Ausstellungen statt. Seither ist der Turm an allen Wochenenden des Sommerhalbjahrs geöffnet.
1997 standen Reparaturen am Dach an. Gleichzeitig wurden an den Außenmauern Befund-Untersuchungen zur Farbigkeit vorgenommen, aus denen hervor ging, dass der Turm im 18. Jahrhundert ähnlich wie die Kirchenfassade und der Traidkasten gestrichen war: eine weiße Grundfarbe mit grauer Hervorhebung der Fenster-Umrahmungen. Diesen Anstrich hat man 1998 versucht, zu rekonstuieren.
So steht unser Taubenturm seit nunmehr über 380 Jahren, in guten und in schlechten Zeiten. Vermutlich wurde er nie so intensiv genutzt wie in den letzten 30 Jahren. Möge er noch lange erhalten bleiben, damit auch spätere Generationen über die alten Ziegelstufen hinaufsteigen und vom obersten Stockwerk aus den herrlichen Blick über Diessen und den Ammersee genießen können.
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